Rosine und Herr Vonundzu

Bevor ich beginne, möchte ich weit von mir weisen, dass alles das, was ich hier aufschreibe, nur meiner oder der Phantasie eines anderen, wessen Phantasie auch immer, entsprungen ist. Die Quelle all dieser Geschichten ist eine sehr vertrauenserweckende und gutherzige Seele. Tolldreistes Flunkern ist ihr zwar nicht fremd, das gebe ich zu. Aber in diesem Maße würde sie es nie wagen, mir etwas vorzumachen. Oder etwa doch?

Roswitha lebte mit ihrem Bruder und ihren Eltern in einer mittelgroßen Stadt. In einer geräumigen Wohnung im zweiten Stock. Auf der linken Seite. Roswitha kam eigentlich gut aus mit ihren Eltern und auch mit ihrem zwei Jahre jüngeren Bruder Hartmut. Roswitha selber war elf Jahre alt, hatte glattes, dichtes braunes Haar und tobte gerne durch die Häuserschluchten. Ganz in der Nähe verlief auch ein Fluss, an dem Roswitha oft herumstöberte, ob sie irgendetwas Interessantes finden konnte. Während die meisten anderen Mädchen aus ihrer Klasse schon sehr viel Wert darauf legten, in Sachen Mode immer auf dem neuesten Stand zu sein, trug Roswitha am liebsten abgetragene blaue Jeans. Ihre Kleidung musste auf ihren Exkursionen auch schon einiges aushalten. Roswitha war neugierig und forschte, wenn immer sich die Gelegenheit bot, überall herum.

Sie war aber keine Einzelgängerin, sondern kannte schon eine Menge Menschen. Da war der Gemüsehändler um die Ecke, die nette ältere Dame in der Bäckerei, der Kioskbesitzer samt seiner dicken Frau, der Busfahrer Herr Stöpke, die alte Frau Kaluppke aus dem Erdgeschoss unten rechts, der nette Postbote, dessen Name sich Roswitha einfach nicht merken konnte und die ganze Clique um ihren doch hin und wieder durchaus nervenden kleineren Bruder. Und natürlich ihre eigene Clique. Die hochnäsige Sabine, die große Katharine und Roswithas beste, nein, ihre allerbeste Freundin Susanne. Da Roswitha aber so oft ganz spontan und ohne Umschweife einfach loszog, behaupteten die anderen drei Mädchen schon mal gerne, Roswitha sei mehr so eine Art Phantom. Man habe zwar schon von ihr gehört, aber sie so richtig zu Gesicht zu bekommen, grenze schon an ein Wunder. Darauf nahm Roswitha aber keine Rücksicht. Wenn es irgendwo brannte, im übertragenen Sinne, oder sie der Meinung war, sie müsse nun ganz dringend wohin, dann duldete Roswitha keinen Widerspruch. Vielleicht duldete sie dann schon Widerspruch, aber das bekam sie meist gar nicht mehr mit. Noch bevor die anderen sich versahen, war Roswitha dann schon enteilt. Doch manchmal brauchte sie auch die Hilfe ihrer Freundinnen. Dann duldete sie aber erst Recht keinen Widerspruch. Dann hörte alles auf ihr Kommando oder sie konnten ihr alle gestohlen bleiben. Ein gewisser Eigensinn war also durchaus vorhanden. Dennoch bewunderten die anderen drei Mädchen, Sabine, Katharine und Susanne, ihre Freundin. Sie schien nie zu verzweifeln und hatte stets eine Lösung parat. Und wenn nicht, dann zog sie solange um die Häuser oder entlang am Fluss, bis ihr was einfiel. Und ihr fiel eigentlich immer etwas ein. Für den seltenen Fall, dass selbst Roswitha keine Idee hatte, hatte sie nur ein kurzes Schulterzucken übrig.

Der Sommer war vorbei und eigentlich auch der Herbst. Man konnte also glatt behaupten, es war bereits Winter. Und bevor diese Geschichte beginnt, die ich nach bestem Wissen und Gewissen zu Papier zu bringen gedenke, bleibt mir vorab nur noch eine Kleinigkeit zu erzählen. Auch wenn Roswitha das sicher ganz anders sehen würde. Das war schon mehr als eine Kleinigkeit. Auch nicht nur eine große Kleinigkeit, sondern von herausragender Wichtigkeit. Denn Roswitha mochte ihren Namen nicht sonderlich.

Hartmut nannte seine größere Schwester, seitdem er reden konnte, nur Rosi. Und Hartmut hatte mit dem Sprechen viel zu früh begonnen, fand Roswitha. Wenn es nach ihr ginge, könnte er auch noch gerne weiter nur vor sich hin brabbeln wie ein kleines Kind. Der Unterschied war eh nicht sehr groß, stellte sie immer wieder verwundert fest. Roswithas Oma nannte ihre Enkelin als Einzige noch bei ihrem vollen Namen. Selbst die Eltern hatten es aufgegeben, schien ihre widerspenstige Tochter doch partout immer dann Hörprobleme zu bekommen, wenn der Name Roswitha fiel. Seit dem letzten Weihnachten hatte Roswitha ihre Vorliebe für Weihnachtsstollen entdeckt. Mit dem Puderzucker ließ sich so schön Schnee machen. Und so ein Stollen schmeckte ja auch einfach köstlich. Und all die Rosinen in so einem Stollen! Roswitha genoss jeden Bissen und rollte immerzu mit den großen blauen Augen. Und seitdem hatte Rosi, die eigentlich Roswitha hieß, ihren Spitznamen weg: Rosine. Und wenn man etwas von ihr wollte, dann nannte man sie besser Rosine. Ansonsten schaltete sie gleich auf Durchzug. Nur, die Geschichte trägt ja den Titel ‚Rosine und Herr Vonundzu’. Du musst jetzt aber nicht zurückblättern und nachgucken, ob Du da etwas übersehen hast. Herr Vonundzu ist noch gar nicht aufgetaucht. Und auch Roswitha, pardon, Rosine ahnt noch nicht, dass sie schon bald Bekanntschaft mit diesem Herrn Vonundzu machen wird. Aber warten wir es ab und sind wir geduldig.

Rosine wachte an diesem Freitag auf wie immer. Genervt. Es war zwar bald Wochenende, aber es waren noch immer keine Schulferien. Mit geschlossenen Augen trabte Rosine auf den Flur, schwenkte nach vier Metern nach rechts ab, drückte die Türklinke der Badezimmertür herunter und war gleich noch mehr genervt. Besetzt. Wer sonst war denn um diese Uhrzeit schon wach? Draußen war es noch stockdunkel. Daher machte Rosine auch gar nicht erst ihre Augen richtig auf.
„Wenn das doch sowieso noch dunkel ist.“ Das war ihre Antwort gewesen, als ihr Vater sie gestern gefragt hatte, warum sie denn schnurstracks und blindlings in ihn hineingeschlendert war. Ebenfalls so früh am Morgen. Viel zu früh am Morgen. Und ebenfalls mit geschlossenen Augen. Nur eben einen Tag früher. Am Donnerstag.
„Wenn ich nicht ins Badezimmer kann, dann kann ich mich nicht waschen. Dann gehe ich wieder ins Bett. Und nicht zur Schule.“ Sie wartete gar nicht die Antwort ihres Vaters ab. Sie kannte sie ja auch schon. Daher sprach der wohl auch mehr ins Geratewohl hinein: „Guten Morgen, meine Rosine. Das andere Bad ist doch bestimmt frei. Ganz zu deiner Verfügung.“ Rosine trabte aber schon längst in Richtung des anderen Badezimmers. Nur konnte sie, wenn sie dort durch das schmale Fenster hinausschaute, nicht in das Badezimmer von Frau und Herrn Miesepeter gucken. Das war bestimmt nicht deren richtiger Name, aber er passte, meinte Rosine. Und es war immer ein Erlebnis, die beiden zu beobachten. Und es war egal, ob es früh am Morgen, viel zu früh am Morgen war oder sonst wann. Das Ehepaar guckte immerzu miesepeterig aus der Wäsche. Das faszinierte Rosine. Wie zwei Menschen den ganzen Tag über immer schlechter Laune sein konnten.

Aber jetzt wusch sie sich erst einmal und beäugte ihr Machwerk. Allerdings immer noch mit geschlossenen Augen. Wenn sie weder Frau, noch Herrn Miesepeter bestaunen konnte, dann gab es keinen Grund, schon so früh, immer noch viel zu früh am Morgen, die Augen zu öffnen. Die Zahnpasta fand irgendwie ihren Weg in den Mund und Rosine konzentrierte sich zunächst einmal darauf, die Zahnpasta gekonnt im Waschbecken zu verteilen. Danach ging es in die Küche.
„Na, Rosine. Guck, ich hab’s genau gesehen. Du hast eben kurz das linke Auge geöffnet. Hah!“ Hartmut, ihr kleiner Bruder, war also auch schon wach. Hatte der nicht erst zur zweiten Stunde Unterricht? Warum war der dann schon auf! Und warum schwätzte der so viel! Noch vier Schulstunden trennten Rosine von dem letzten Wochenende vor Weihnachten. Und nun auch noch Hartmut.

Jetzt riskierte sie tatsächlich einen Blick. Und zwar auf die Küchenuhr. „Verflixt!“ Sie war schon spät dran. Wenn sie sich nicht beeilte, dann könnte sie nicht kurz bei Frau Kaluppke reinschauen. Die alte Dame konnte so prima Geschichten erzählen und verstand sich ganz besonders in der Zubereitung von Kakao. Da konnte sich selbst Rosines Mutter noch eine Scheibe abschneiden. Schnell und geübt hatte Rosine sich in Schale geworfen, was nichts anderes bedeutete, als dass sie sich eine alte Jeans, den roten Strickpullover von ihrer Oma und eine dicke dunkelblaue Jacke angezogen hatte. Der viel zu lange Schal wand sich etliche Male um den Hals von Rosine und die gelben Sterne auf dem blauen Schal funkelten schon von weitem. Den Rucksack hastig übergestreift flitzte sie die Treppe hinunter. „Pass auf dich auf, Rosine.“ Ihre Mutter schloss die Wohnungstür hinter ihrer Tochter und ging mit einem heißen Becher Kaffee zurück in die Küche.

„Guten Morgen, Frau Kaluppke. Ich habe leider gar keine Zeit heute. Tschüüüüüüß.“ Die alte Frau saß am Fenster und winkte dem kleinen Mädchen freudestrahlend hinterher. „Ach ja, Rosine,“ seufzte sie und erinnerte sich an die eigene Kindheit. Rosine ähnelte ihr schon sehr. Dann schloss sie das Fenster und setzte sich zu dem Kater, Herrn Maus, auf die Küchenbank und döste ein wenig vor sich hin.

Und wenn Du jetzt ungeduldig werden solltest, weil die Geschichte ja ‚Rosine und Herr Vonundzu’ heißt und dieser besagte Herr immer noch nicht aufgetaucht ist, dann warte es einfach mal ab. Jetzt war ja erst einmal Schule. Doch dann, auf dem Rückweg, da wird Rosine ganz bestimmt nicht widerstehen können. Die Schule liegt auf der anderen Seite des Flusses. Nur knapp zehn Minuten zu Fuß von Rosines Zuhause. Auf dem Hinweg ist sie schnell über die Brücke geflitzt, aber auf dem Rückweg, da macht sie meistens einen Abstecher. Und durchstöbert die Gegend. Ob sie dann vielleicht die Bekanntschaft von Herrn Vonundzu macht?

Zunächst einmal mühte sich Rosine durch die Schulstunden. Sie war im Grunde ein sehr gescheites Mädchen, ließ aber auch immer wieder die rechte Lust vermissen, dem Unterricht aufmerksam zu folgen. Als die Schulglocke zur Mittagszeit schrillte, fuhr Rosine daher auch erschreckt auf. Sie hatte offensichtlich einige Zeit lang geträumt. Um sie herum stopften die anderen bereits die letzten Schulsachen in ihre Taschen und eilten in Richtung Ausgang. Es war Wochenende. Endlich.
„Wo bleibst du denn, Rosine?“ Susanne stand im Türrahmen und blickte verwundert zu ihrer Freundin hinüber.
„Ich kann heute nicht mit zum Kiosk. Ich muss nachher mit Hartmut in die Stadt. Geschenke kaufen.“
„Na dann. Wir telefonieren.“ Schon eilte Susanne den anderen hinterher. Rosine blieb noch eine Weile sitzen. Warum hatte sie ihre beste Freundin eigentlich eben angeflunkert? Sie wollte doch heute gar nicht mit Hartmut in die Stadt. Rosine schüttelte ihren Kopf und guckte aus dem Fenster. Schneeflocken! Es schneite. Schnell verstaute sie das Matheheft in dem Rucksack und vergaß beinahe, den Taschenrechner einzupacken. Sie sprintete die Treppe herunter und hätte fast den Hausmeister umgerannt. „Rosine! Kind! Pass doch auf!“ „Tschuldigung“, brachte sie nur heraus und hastete weiter die Stufen hinunter, um so schnell wie möglich durch den ersten Schnee stapfen zu können.

Die Luft war herrlich und der Schnee knirschte schön geräuschvoll bei jedem Schritt. Rosine bog in die Kramerstraße ein und blickte von der Brücke aus hinunter auf den Fluss. Das Wasser sah kalt aus. Das Mädchen stellte sich vor, sie müsste jetzt in dem Fluss schwimmen und bibberte bei dem Gedanken. Kein Boot, kein Kahn, nichts schipperte auf dem kalten Fluss entlang. Die Enten und anderen Vögeln hatten den Fluss offenbar ganz für sich alleine. Auf der gegenüberliegenden Seite des Flusses trieb ein Stück Holz am Uferrand. Rosine versuchte zu erkennen, was das für ein Stück Holz war, doch da schien das Treibholz sich gerade hinter einem in den Fluss ragenden Baum auf seiner Reise woher auch immer und wohin auch immer auszuruhen. Neugierig kletterte das Mädchen auf der anderen Seite der Brücke hinunter zum Ufer.
„Brrhh. Ist das kalt. Wo bin ich denn hier nur gelandet?“

Rosine blieb stehen. Da hatte doch eben wer gesprochen. Eine helle, recht dünne Stimme. „Wer ist denn da?“ wollte Rosine wissen. Stille. Da das Mädchen niemanden entdecken konnte, hakte sie die Stimme erst einmal ab und machte sich weiter auf die Suche nach dem Stück Holz. Schon bald fand sie das Treibholz. Es steckte hinter dem ins Wasser ragenden Baum am Uferrand fest.
„Schade.  Wirklich nur ein Stück altes Holz.“ Rosine hatte sich mehr von ihrem Fund versprochen und war im Begriff umzudrehen. Langsam wurde ihr auch etwas kalt.
“Nur ein altes Stück Holz? Nur ein altes Stück Holz? Junge Dame, dies alte Stück Holz gehörte sicherlich einst zu einem edlen Schreibtisch und ist von erlesener Qualität.“ „Wa .. was?“ Rosine starrte auf das Treibholz und begriff nicht so ganz. „Wer spricht denn da?“ „Na ich, mein Fräulein. Gestatten. Herr Vonundzu.“ Rosine meinte, es hätte sich da etwas auf dem Holz bewegt und kniete sich hin. Und tatsächlich. Da war doch  wirklich jemand! Ein winziges Etwas. Herr Vonundzu nahm galant kurz seinen schwarzen Zylinder ab und verbeugte sich vor Rosine. „Wer.. wer bist du denn?“ Mehr brachte das Mädchen nicht heraus. „Hat das gnädige Fräulein etwa nicht ihre Ohren geputzt? Ich sagte es doch bereits. Mein Name ist Herr Vonundzu. Und wer sind sie, junge Dame?“ „Ich?“ Ja, wer war sie denn gerade noch einmal? Rosine konnte einige Moment lang nicht so richtig denken. Mit wem sprach sie denn hier gerade? Mit Herrn Vonundzu? „Ich heiße Rosine. Zumindest nennen mich alle so.“ „So, so. Rosine. Und warum guckst du so komisch aus der Wäsche?“ „Warum ich so komisch gucke? Na, weil .. weil .. Himmel, wer bist du denn eigentlich?" Sie stutzte. "Und was bist du denn eigentlich? Herr Vonundzu“, fügte Rosine noch schnell hinzu. „Werte Rosine. Zur Abwechslung ist es nun einmal an mir, erstaunt zu gucken. Hast du noch nie mit einem Holzwurm zu tun gehabt?“

Rosine bekam ihren Mund gar nicht mehr zu. „Ich? Äh, du. Ein Holzwurm? Wie? Äh, was? Äh?“ Das Mädchen starrte weiter ungläubig auf das Stück Holz. Und auf Herrn Vonundzu. „Sind wir ein bisschen durch den Wind, junge Dame?“ Herr Vonundzu legte seinen kleinen Kopf schräg und guckte Rosine fest ins Gesicht. „Durch den Wind? Ich? Wieso?“ Langsam beruhigte sich Rosine. „Nö. Wieso denn auch? Ich knie hier im Schnee und spreche mit einem Holzwurm. Ich werde einfach kurz die Augen schließen und wieder öffnen. Und dann sitze ich immer noch im Klassenzimmer.“ Doch so sehr und oft Rosine auch die Augen schloss und wieder öffnete, wieder und wieder, immer noch stand da ein klitzekleiner Holzwurm auf dem nassen Stück Holz. Herrn Vonundzu schien Rosines Bemühen eher zu belustigen. Um seinen Hals trug der Holzwurm einen unendlich langen dunkelroten Schal, den er wohl mehr als ein Dutzend Male um seinen im Grunde nicht enden wollenden Hals gelegt hatte.  Ansonsten trug er nur einen überlangen schwarzen Pullover, der beinahe noch die nackten Füßchen bedeckte. Rosine sah ein, sie träumte wohl wirklich nicht mehr. Und wenn doch, dann konnte sie offenbar nicht so ohne weiteres aufwachen. Daher akzeptierte sie erst einmal, was sie da sah.

„Frierst du nicht, Herr Vonundzu? So ganz ohne Schuhe. Wo das doch sogar schneit.“ Herr Vonundzu wurde ein wenig verlegen und hob abwechselnd immer wieder einen Fuß. „Also, um ehrlich zu sein. Es ist schon ein wenig kalt. Sogar sehr kalt. Der Pullover wärmt zwar wunderbar.." Er blickte an sich hinunter. „Aber meine Füße. Uuih .. uuih.“ „Kann ich dir irgendwie helfen?“ wollte Rosine wissen. Ihr tat der bibbernde Holzwurm leid. „Du hast nicht zufällig ein paar passende Schuhe für mich?“ „Welche Größe hast..“, Rosine brach die Frage ab. Als ob sie passende Schuhe für den Holzwurm haben konnte! Und selbst ihr kleiner Bruder Hartmut hatte im Vergleich zu Herrn Vonundzu riesige Füße. Sie überlegte. “Wo willst du denn eigentlich hin?“ „In die Stadt mit dem wunderschönen Glockenspiel.“ „Die Stadt mit dem schönen Glockenspiel?“ „Mit dem wunderschönen Glockenspiel“, korrigierte Herr Vonundzu das Mädchen. „Du meinst doch nicht am Ende diese Stadt? Wir haben hier ein schönes, ich meine, ein wunderschönes Glockenspiel.“ „Ja?“ Wie geht das denn? Summ doch mal vor.“ „Weißt du denn nicht, wie die Stadt heißt?“ Der Holzwurm setzte sich auf das Stück Holz und  legte seinen Zylinder neben sich. „Klar. Ich weiß, wie die Stadt heißt. Ich habe es nur eben vergessen. Ich weiß aber, dass ich eigentlich weiß, wie die Stadt heißt.“ Dabei strahlte er Rosine so sehr an, dass die gar nicht anders konnte als ebenfalls zu grinsen. „Du bist mir schon so einer. Na gut, ich pfeif’ mal.“ Rosine grinste weiter. Da hatte der Flötenunterricht doch noch etwas Gutes. Sie brauchte gar nicht lange zu überlegen. Schnell hatte sie die Melodie beisammen. Da sprang Herr Vonundzu auch schon auf. „Ja, das ist es! Dann bin ich hier ja richtig! Juchhu!“ Und Rosine freute sich mit dem Holzwurm.

„Und wo genau musst du denn hier hin?“ „Hier soll es einen ganz alten Sekretär geben. Da wohnen Freunde von mir. Mit denen wollte ich Weihnachten zusammen feiern.“ „Und die Adresse?“ Zähneknirschend schüttelte Herr Vonundzu den Kopf. „Die weiß ich nicht.“ Er überlegte kurz und lächelte Rosine ins Gesicht. „Kannst du mir nicht helfen?“ „Ich? Ich dir helfen? Wie denn?“ Ja, hätte Herr Vonundzu richtige Schultern gehabt, er hätte jetzt wohl mit beiden Schultern gezuckt. Er musste feststellen, dass er wohl ein wenig überhastet aufgebrochen war. Ob Rosine ihm helfen konnte? „Erst einmal brauchst du ein paar Schuhe. Wieso reist du denn überhaupt ohne Schuhe?“ Rosine wurde neugierig. „Die habe ich verloren. Heute Nacht" Der Holzwurm legte seine Hände in beide Hüften. "Oder schläfst du etwa in Schuhen? Nur habe ich die wohl zu unachtsam auf dem Holz abgestellt. Ja und heute morgen waren sie weg. Die sind wohl ins Wasser gefallen.“ „Ach, da fällt uns schon etwas ein. Erst einmal nehme ich dich jetzt mit zu mir. Das ist doch viel zu kalt hier für dich.“ Rosine öffnete ihren Rucksack und streckte die rechte Hand aus. „Komm, hab’ keine Angst. Ich pass schon auf. Das ist zwar ein wenig dunkel da drinnen, aber das ist ja nur für einige Minuten. Ich wohne hier ganz in der Nähe.“ Herr Vonundzu zögerte kurz, spürte aber auch sogleich wieder seine frierenden Füße und willigte ein. „Aber auch schön acht geben, ja?“ „Klaro.“ Der Holzwurm hüpfte auf die Hand und Rosine beförderte ihn behutsam in den Rucksack. „Ich beeile mich auch, Herr Vonundzu.“ Doch der machte sich bereits ganz klein, schloss die Augen und schien ein paar Stoßgebete gen Holzwurmhimmel zu richten.

Leise sprach er mehr zu sich selber:„Es kann losgehen.“ Dabei kauerte er sich ängstlich an Rosines Matheheft fest. Mit der Zeit gewöhnte sich der Holzwurm aber an das Dunkel und fasste ein wenig Mut. Er schaute sich in dem Rucksack um. Lauter Bücher und Hefte. Ob er da einfach mal kosten sollte? Und durfte? Er hielt der Versuchung nicht lange stand und biss in ein dickes Buch hinein. Sofort spuckte er den Bissen wieder aus. „Pfui! Das schmeckt ja widerlich.“ Herr Vonundzu schüttelte sich. Dann versuchte er zu entziffern, was da auf dem Buch stand. Er hatte schon als junger Holzwurm sehr schnell lesen gelernt. So wusste er stets, was ihm unter die Finger kam. Ein Buch bedeutete für ihn immer ein Zwei-Gänge-Menü.  Zunächst verschlang er das, was in dem Buch stand und dann verschlang Herr Vonundzu das Buch selber. Aber das musste schon ein gutes Buch sein. Der Holzwurm war da sehr wählerisch. Und dieses Buch hier war so gar nicht nach seinem Geschmack. Herr Vonundzu holte seine kleine Brille hervor und entzifferte im Dunkel den Titel des Buches. Chemie stand da drauf. „Na dann. Kein Wunder, dass mir das nicht schmeckt.“ Herr Vonundzu bevorzugte nämlich natürliche Produkte. Die wären magenfreundlicher, betonte er immer wieder. 

„Herr Vonundzu?“ Rosine stapfte durch den Schnee und wandte sich an ihren Passagier im Rucksack. „Ja, Rosine? Was ist denn? Sind wir schon da?“ „Nee, ein kleines Stück noch. Ich wollte nur fragen, wie du eigentlich so ganz heißt?“ Der Holzwurm schnupperte gerade an dem Deutsch-Heft von Rosine. „Ganz? Wie meinst du das?“ „Na ja, wie ist denn dein ganzer Name? Herr Vonundzu und weiter?“ „Herr Vonundzu. Nur Herr Vonundzu.“ „Komischer Adel“, schnaufte Rosine vor sich hin. „Adel? Wieso denn Adel? Wer ist adelig? Etwa du?“ Rosine musste lachen. „Ich und adelig? Nein. Ich dachte, dass du adelig bist. Wegen deines Namens.“ „Nö. Vonundzu ist mein Nachname. So heiße ich nun mal. Das ist ein ganz geläufiger Name für Holzwürmer. So wie bei euch Müller oder Schmidt oder so.“ “Ach so.“ Rosine begriff. „Und dein Vorname? Wie ist denn dein Vorname?“ „Ach“, der Holzwurm wiegelte ab, „den kannst du dir ohnehin nicht merken. Der ist nämlich ganz schön lang. Und für Menschen unaussprechlich.“ Da wurde Rosine erst recht neugierig, konnte aber nicht sofort nachfragen, denn sie waren soeben an der Haustür angekommen. „Hallo, Frau Kaluppke. Huhu!“ Frau Kaluppke putzte gerade ihr Küchenfenster und winkte dem Mädchen zu. „Hallo, junges Fräulein. Magst du auf einen Kakao reinschauen?“ „Liebend gerne, Frau Kaluppke. Nur, ich habe noch so viel Hausaufgaben zu machen.“ Und dann habe ich noch einen barfüßigen Holzwurm im Rucksack, kicherte Rosine in sich hinein. „Geben Sie ihrem Kater einen lieben Schmatzer von mir. Tschüüüß.“ Schon rannte Rosine die Stufen hinauf in den zweiten Stock. Der Holzwurm geriet ins Schaukeln.„Vorsicht, Rosine. Mir wird ja ganz schwindelig.“ Aber das Mädchen überhörte das Wehklagen von Herrn Vonundzu. Der Wohnungsschlüssel steckte irgendwo im Rucksack und sie war zu faul, nach ihm zu suchen. Daher klingelte sie Sturm, bis endlich die Mutter die Tür öffnete. „Geht’s noch, junge Dame?“ „Ich muss dringend wohin.“ Sie huschte an ihrer Mutter vorbei in Richtung Badezimmer. „Rosine, sei bitte etwas leiser. Hartmut ist krank. Er liegt im Bett und hat Halsschmerzen.“ Auch das noch, dachte Rosine. Hoffentlich würde ihr Bruder schlafen und sie nicht nerven. Denn Rosine musste ja erst einmal ein paar Schuhe für den Holzwurm finden. Sie hatte zwar noch keine Idee, wie sie das anstellen sollte, aber das würde sich schon finden.

Im Badezimmer öffnete sie den Rucksack und hielt ihren rechten Zeigefinger vor den Mund. „Psst. Gleich geht`s in mein Zimmer. Meine Mutter ist da. Und auch Hartmut. Mein jüngerer Bruder. Also bitte. Sei erst einmal still. Und .. Hey! Und knabbere nicht an meinen Sachen herum, Herr Vonundzu!“ „Tschuldigung. Nur, ich habe Hunger.“ „Hunger? Auch das noch. Na, da wird uns schon was einfallen. Jetzt geht’s in mein Zimmer.“ Mit verstohlenem Blick schlich Rosine über den Flur. Hartmut schien tatsächlich zu schlafen, und die Mutter werkelte eifrig in der Küche herum. Leise schloss Rosine hinter sich die Tür. Auf was hatte sie sich da nur eingelassen? Ein barfüßiger hungriger Holzwurm auf der Suche nach seinen Freunden. Aber anstatt mutlos vor sich hin zu starren, konnte sie nicht an sich halten, sondern kicherte einfach drauf los. Das würde bestimmt ein lustiges Wochenende werden.

Herr Vonundzu massierte unterdessen seine kalten Füße. „Uiih, uiih.“ „Hast du Schmerzen, Herr Vonundzu?“ fragte Rosine besorgt. „Danke der Nachfrage. Ich spüre nur gerade wieder meine beiden Füße. So langsam werden die wieder lebendig.“ Da lächelte das Mädchen schon wieder. „Du brauchst ein paar anständige Schuhe.“ Sie guckte auf den kleinen Holzwurm und korrigierte sich. „Ein paar anständige Schühchen.“ Sie überlegte angestrengt, während der Holzwurm es sich auf Rosines Bett gemütlich machte. Er legte seine Arme in den Nacken und rollte sich in seinen überlangen Schal ein. Schon war Herr Vonundzu eingeschlafen. Das musste eine anstrengende Reise gewesen sein. Das Mädchen hingegen grübelte weiter vor sich hin. Auf einmal sprang sie auf. Sie hatte eine Idee. „Ja, das könnte klappen!“ Sie guckte in Richtung Bett, aber der Holzwurm drehte sich gerade auf die andere Seite und schlief weiter. Rosine erinnerte sich an ihren Süßigkeitenvorrat. War da nicht auch ein roter kleiner Stiefel zur Zierde dabei? Ungeduldig kramte sie in einer Schublade herum. „Hah! Da haben wir ihn ja schon.“ Nur, da war nur ein Stiefel. Was nun? „Hartmut!“ Ja, ihr Bruder würde sicher auch noch irgendwo so einen Stiefel haben. Schnell schlich sie in das Zimmer ihres Bruders. Der lag in seinem Bett und döste vor sich hin.

Kaum stand sie jedoch in seinem Zimmer, wachte Hartmut auf. „Rosine! Willst du mit mir spielen? Das ist so langweilig hier im Bett.“ „Später, Bruderherz. Wenn du mir deinen kleinen Stiefel borgen kannst. Der bei den Weihnachts-Naschsachen dabei war, die wir von Frau Kaluppke bekommen haben. Eigentlich ja ich, aber ich sollte dir ja auch was abgeben“, fügte sie noch gönnerhaft hinzu. Ihr Bruder sollte jetzt bloß keine Anstalten machen und herumzicken. Aber Hartmut war noch sehr geschwächt. Sein Hals schien wirklich sehr zu schmerzen. Fast bekam sie Mitleid. Dann dachte sie aber wieder an Herrn Vonundzu und wühlte bereits in der Naschkiste ihres Bruders herum. „Da haben wir ihn ja schon.“ Sie hielt den zweiten roten Stiefel in ihren Händen. „Bis später, Hartmut.“ „Den kriegst du nur, wenn du mir verrätst, wofür du den brauchst.“
Ihr kleiner Bruder zickte also doch herum. Rosine entshied sich für die Wahrheit, denn die würde ihr Bruder ihr eh nicht abkaufen. Und dann musste sie ihn nicht einmal anlügen. „Der ist für einen Holzwurm, der friert.“ Hartmut guckte seine Schwester nur an, erwiderte aber nichts. Schnell schloss Rosine hinter sich die Tür und ließ einen verwirrten Hartmut zurück. Ihr kleiner Bruder verkroch sich unter der Bettdecke und mühte sich mehr recht als schlecht, nicht zu so oft zu schlucken. Diese verflixten Halsschmerzen, dachte er nur noch. Dann schlief er wieder ein. Wenn er gewusst hätte, dass im Nebenzimmer ein kleiner Holzwurm ebenfalls gerade vor sich hin döste, hätte er wohl seine Schmerzen vergessen. So aber träumte Hartmut nur von kleinen lebendigen Stiefeln, die auf seinem Hals  herumsprangen.

Im Nebenzimmer weckte Rosine gerade Herrn Vonundzu auf. „Herr Vonundzu. Hallo. Aufwachen. Ich habe hier zwei prima Stiefel für dich. Richtig schick.“ Langsam berappelte sich der Holzwurm, blickte sich kurz um und erinnerte sich wieder. Er erinnerte sich an die Flussfahrt, an das Mädchen und an seine Schuhe, die über Nacht wohl in den Fluss geplumpst waren. Herr Vonundzu streckte seinen kleinen Körper ausgiebig und legte sich seinen Schal wieder zurecht. „Stiefel? Für mich?“ Der Holzwurm klatschte in die Hände und guckte schon ganz neugierig. „Hier. Schau. Rote Stiefel. Probier sie mal an.“ Herr Vonundzu war skeptisch. „Das sind doch Riesenstiefel!! Guck dir mal meine zarten Füßchen an, Rosine. Wie soll ich denn da meine Füße reinstecken, ohne nicht ganz hineinzuplumpsen?!“ „Ach, nun übertreib’ mal nicht so. Probiere es doch erst einmal.“ Und Rosine half dem Holzwurm in die Stiefel. Doch die waren tatsächlich ein wenig zu groß. „Siehst du, Kind? Zu groß.“ „Ach was, das bisschen. Warte mal. Ja, das müsste klappen.“ Schnell knüllte Rosine zwei winzige Fetzen Papier zusammen und stopfte sie in die beiden Stiefel. „Nun probier’ noch mal.“ Und tatsächlich! Der Holzwurm war sehr zufrieden.

Rosine musste grinsen. „Jetzt noch eine rote Zipfelmütze und du bist der Weihnachts-Holzwurm.“ Herr Vonundzu grinste mit dem Mädchen um die Wette. Dann aber knurrte ihm der Magen. Bedröppelt guckte er leicht schräg nach oben. Direkt in Rosines Gesicht. „Hast du was zu essen für mich, Rosine? Ich habe Hunger.“ Das Mädchen kratzte sich am Kopf. Etwas zu essen. Etwas zu essen für einen Holzwurm. Das mit den Stiefeln hatte ja prima geklappt. Eins nach dem anderen, nahm sie sich vor. Jetzt musste sie also einen hungrigen Holzwurmmagen stopfen. Da knurrte auch schon ihr eigener Magen. Ach ja. Ich könnte auch etwas vertragen, stellte sie fest. Rosine blickte dem Holzwurm ins Gesicht und zwinkerte mit den Augen. „Das kriegen wir schon hin."

„Worauf hast du denn Appetit?“ wollte Rosine wissen. Herr Vonundzu wiegte seinen Kopf hin und her. „Auf .. auf .. auf Holz vielleicht?“ Der Holzwurm grinste, als sich Rosine mit beiden Händen an den Kopf fasste. „Na klar. Blöde Frage. Du bist ja ein Holzwurm.“ Doch da lenkte Herr Vonundzu ein. „Nee, so blöde war die Frage gar nicht. Klar, ich bin ein Holzwurm. Aber wir Holzwürmer essen jetzt nicht nur ständig Holz. Überleg’ doch mal, Rosine. Stell dir vor, du würdest jeden Tag dasselbe essen.“ Der Holzwurm dachte kurz nach. „Wie zum Beispiel Karottenmarmelade!“
„Karottenmarmelade?! Rosine verzog das Gesicht. "Was ist denn das?! Bah! Nee, das klingt ja fürchterlich."
„Na dann eben etwas anderes. Irgendetwas, was du gerne isst. Wenn du das täglich essen müsstest, dann würdest du bestimmt bald dein Gesicht verziehen, wie du das eben auch gemacht hast.“ Rosine dachte nach. Der Holzwurm hatte recht. Letztes Jahr zu Weihnachten hatte sie einen Weihnachtsstollen nach dem anderen aufgefuttert. Und irgendwann mochte sie nicht mehr. Auch wenn da ja so viele leckere Rosinen drinne waren. Sie wandte sich wieder dem Holzwurm zu, legte ein kleines gelbes Tuch über ihren rechten Unterarm und sprach übertrieben vornehm zu Herrn Vonundzu: „Und was wünschen der gnädige Herr denn nun zu speisen?“

„Ähm, also, öh, hmmh, .. als Vorspeise hätte ich gerne einen Wackelpudding mit gedünsteten Zwiebeln. Dann eine mit Käse überbackene Banane. Dazu natürlich genügend Ketchup. Gerne etwas schärfer. In Honig eingelegte Wurzeln. Gurken natürlich. So richtig lecker mit Schokoladensoße. Und als Nachspeise ein wenig Sägespäne. Aber ordentlich gesalzen. Und auch gepfeffert. Schwarzer Pfeffer. Ja, ich glaube, das reicht fürs erste.“ Rosine bekam ihren Mund gar nicht mehr zu. „Soll ich noch mal wiederholen, Kind? Oder kannst du dir das alles so merken?“ „Ich .. äh .. wir .. also .. das heißt meine Eltern .. also, meine Mama .. wir .. was soll ich lange um den heißen Brei herumreden. Es ist so. Gurken sind aus, glaube ich. Keine da.“ Das Mädchen zuckte mit den Schultern. „Das ist aber schade. Moment, was duftet denn da so herrlich?“ Rosine hob ihre Stupsnase und folgte dem Geruch. Der musste aus der Küche kommen. „Da wird Mama gerade Rübenmus machen. Der schmeckt ganz lecker.“ „Also, wenn das so ist, dann verzichte ich auf den Wackelpudding mit gedünsteten Zwiebeln, auf die mit Käse überbackene Banane. Mit feurig scharfem Ketchup. Und auch auf die in Honig eingelegten Wurzeln und auch auf die in Schokoladensoße eingelegten Gurken.“ Der Holzwurm machte eine bedeutende Pause. „Und hätte stattdessen gerne etwas Rübenmus.“ „Geht klar, Herr Vonundzu. Bin gleich wieder da. Du kannst ja in der Zwischenzeit ein paar Schritte mit den Stiefeln machen. Damit du die ein wenig einläufst.“ „Eine gute Idee, Rosine. Ach, ich bin schon ein Glückspilz.“ „Nee, ein Holzwurm“, lachte Rosine und verschwand in Richtung Küche. 

Da Hartmut krank im Bett lag und die Mutter ohnehin noch etliche Vorbereitungen für den ins Haus stehenden Besuch der Oma zu treffen hatte, war es ihr sogar ganz recht, dass Rosine sich einen Teller mit in das Zimmer nehmen wollte. „Ja, Kind, mach nur. Ich weiß sowieso nicht, wo mir der Kopf steht.“ Auf dem Hals, dachte Rosine, behielt es aber für sich. War das Mädchen doch froh, dass seine Mutter nicht darauf bestand, zusammen mit ihr am Küchentisch zu essen. Diese vorweihnachtliche Hektik hatte eben doch auch ihre guten Seiten, stellte Rosine fest. Herr Vonundzu stolzierte derweil auf dem Bett des Mädchens umher. Ja, befand er, die Stiefel sahen richtig schick aus. Und passten jetzt auch, nachdem Rosine einige Papierstückchen in die Stiefelspitzen geschoben hatte. „Und wenn ich so richtig Hunger habe, dann ziehe ich einfach die Stiefel aus und habe einen leckeren Essvorrat! Hah!“ Der Holzwurm schien rundum zufrieden und guckte sich in dem Zimmer des Mädchens um. An der Wand hing ein Poster mit einem Schwein, einem Hahn und einer Maus. Die Drei saßen auf einer Wiese und machten ein Picknick. Das Schwein knabberte an einer Mohrrübe, der Hahn naschte ein paar Kirschen und die Maus hielt einen leckeren Getreidehalm in ihrer Hand. „Ach ja,“ seufzte der Holzwurm und dachte an die Freunde, die er zu Weihnachten besuchen wollte. Herr Vonundzu stutzte. An irgendetwas erinnerte ihn das Poster, aber so sehr er auch grübelte, er hatte keine Idee. „Hmmh“, brabbelte er vor sich hin, „wenn ich nur wüsste“, aber da kam auch schon Rosine wieder in das Zimmer hinein.

Der Rübenmus dampfte noch richtig schön. Herr Vonundzu hob seine Nase und rollte mit den Augen. „Wenn das Essen nur halb so lecker schmeckt, wie es duftet, dann wird das ein vorgezogener Festschmaus.“ Der Holzwurm schaute gierig auf den Teller, den Rosine vorsichtig auf das Bett stellte. Er legte seinen Kopf auf die Seite und sprach zu dem Mädchen: „Und was willst du essen, mein Kind?“ „Häh?“ brachte Rosine zunächst nur heraus. „Du willst mir doch nicht sagen wollen, dass du das alles alleine aufessen willst! Den ganzen Teller!“ Herr Vonundzu zeigte all seine weißen Zähnchen und lachte. „Nein. Das war nur ein dummer Holzwurmscherz. Mir genügt schon die Hälfte.“ „Die Hälfte?! Und wo soll das alles Platz finden? Bei deinem kleinen Körper!“ „Gut, dann ein Viertel. Das aber auch wirklich. Ich knie mich so gerne in mein Essen hinein. Und zwar mit dem ganzen Körper. Das macht Spaß. Solltest du auch mal machen.“ Rosine erwiderte nichts, sondern beförderte einen zweiten Teller zu Tage. Eine Untertasse. So, das sollte dann wohl genügen.“ Sie schob Herrn Vonundzu die mit Rübenmus gefüllte Untertasse zu und wartete. „Na dann. Guten Appetit.“ „Kein Ketchup?“ fragte Herr Vonundzu. „Ach so, ’tschuldige bitte. Hier kommt der Ketchup.“ Und sie machte noch einen großen Klecks roter Soße auf den kleinen Teller. Der Holzwurm rieb sich die Hände, nahm Anlauf und sprang mit einem großen Satz in das Essen hinein.

„Besteck brauchst du dann wohl nicht“, bemerkte Rosine trocken und langte ebenfalls zu. Allerdings bediente sie sich von ihrem eigenen Teller. Und mit einer Gabel.
Gelegentlich tauchte Herr Vonundzu aus dem Berg Rübenmus auf und geriet immer wieder in Verzückung. „Köstlich. Einfach Köstlich. Hmmh. Mehr!“ Schon tauchte der Holzwurm wieder ab. Schmatzend arbeitete er sich durch den Essensberg vor. Nach fünf Minuten plumpste er völlig erschöpft neben die Untertasse. „Ich bin pappsatt.“
„Und bekleckerst gerade mein Bett. Moment. Hier. Eine Serviette. Da kannst du dich drauf legen.“ „Danke, Rosine. Uff. Das war anstrengend.“ Der Holzwurm lag wieder auf dem Rücken, seine Hände über dem gut gefüllten Bauch und guckte hinauf zu dem Poster mit dem Schwein, dem Hahn und der Maus. „Wenn ich nur wüsste, woran mich .. Hah! Nee, doch nicht.“ Enttäuscht schloss er seine Augen. „Was ist denn? Ist dir schlecht?“ „Nee, ich habe nur so ein Gefühl, dass mich das Poster an was erinnert. Ich komme nur nicht drauf.“ „Du meinst, es erinnert dich an deine Freunde?“ „Ja, glaube ich zumindest.“ „Wann erwarten dich denn deine Freunde eigentlich?“ wollte Rosine wissen. „Na ja. So richtig erwarten tun die mich nicht.“ „Erwarten die dich dann eher falsch?“ „Wieso?“ Der Holzwurm verstand nicht. „Ein blöder Scherz,“ erklärte das Mädchen. „Wissen die gar nicht, dass du kommst?“ „Na ja, eigentlich bin ich ausgebüxt." Und der Holzwurm erzählte seine traurige Geschichte.

"Ich habe bei meiner bösen Tante gelebt. Aber die wollte nur immer, dass ich ordentlich Holz ranschaffe. Gepiesackt hat die mich, wo sie nur konnte. Ich habe einen Tannenbaum eingepflanzt. Vor einiger Zeit. Und der ist prächtig gewachsen. Und den wollte ich zu Weihnachten schmücken. Aber den durfte ich nicht behalten. Der sollte als Festmahl herhalten. Für meine Tante. Und da hat mir das gereicht und ich bin ausgebüxt. Die hat mich nur immerzu ausgenutzt.“ „Och. Aber deine Freunde gibt das wirklich?“ „Ja. Die müssen hier irgendwo leben. Hier in dieser Stadt.“ Der Holzwurm guckte etwas traurig, plötzlich aber erhellte sich seine Miene. „Hah!“ „Was denn, Herr Vonundzu?“ „Die Maus da oben auf dem Poster. Meine Freunde müssen irgendwo hausen, wo das Mäuse gibt. Daran kann ich mich wieder erinnern!“ Der Holzwurm klatschte in die Hände und war voller Tatendrang. „Wo gibt das denn hier Mäuse?“

„Mäuse? Öh. Meine Freundin Susanne hat zwei Mäuse. Eine weiße und eine schwarze. Aber da werden deine Freunde bestimmt nicht wohnen.“ „Wieso nicht? Wo es da doch Mäuse gibt.“ „Na ja, Mäuse gibt’s hier doch überall. Zumindest nicht nur bei Susanne. Neulich hat der Kater von Frau Kaluppke sogar eine Maus in unserem Keller aufgescheucht. Und dann ist da noch die Zoohandlung. Und dann gibt das auch noch draußen jede Menge Mäuse. Sogar am Fluss. Da habe ich diesen Sommer auch welche gesehen. Die waren richtig putzig.“ „Schade. Ich dachte, jetzt wo ich mich erinnere, da wäre das ein Klacks." Herr Vonundzu seufzte. "Wir sind so weit wie zuvor.“ Der Holzwurm guckte betrübt zu Boden und starrte auf seine roten Stiefel. „Aber, aber. Wir haben doch noch ein wenig Zeit bis Weihnachten“, versuchte Rosine ihrem neuen Freund etwas Mut zuzusprechen. „Und wenn wir deine Freunde bis dahin nicht finden, feierst du einfach hier bei uns mit. Magst du Kartoffelsalat?“

Doch der Holzwurm schien sich nicht so leicht aufheitern zu lassen. Missmutig guckte er nur weiter auf die Bettdecke. „Erinnerst du dich denn an nichts anderes? Einen Namen? Eine Straße oder Hausnummer?“ „Nicht wirklich. Meine böse Tante hatte die Briefe meiner Freunde fast immer abgefangen. Wenn ich Glück hatte, konnte ich mal einen kurzen Blick erhaschen. Aber dann kam meine Tante mir doch wieder auf die Schliche.“ Der Holzwurm guckte betreten. „Und dann hat sie die Briefe immer aufgegessen.“ Der Holzwurm fing an zu weinen. „Wein doch nicht. Jetzt bist du doch so nah am Ziel. Und deine Tante wird dich hier schon nicht finden.“ Rosine kratzte sich kurz am Kopf und schien nachzudenken. „Leg’  dich erst einmal ein wenig hin und ruh’ dich aus. Ich überlege mir inzwischen etwas.“ Der Holzwurm zog noch schnell seine roten Stiefel aus, stellte sie sorgsam neben sich und gähnte herzhaft. Vorsichtig deckte das Mädchen Herrn Vonundzu mit einem Deckenzipfel zu und pustete ihm sanft ins Gesicht. „Das kriegen wir schon hin, Herr Vonundzu.“ Da lächelte der kleine Holzwurm auch schon wieder ein wenig. Dankbar warf er dem Mädchen galant eine Kusshand zu und drehte sich auf die Seite. Auf Zehenspitzen ging Rosine aus dem Zimmer. Sie würde jetzt einfach mal durch die Straßen schlendern. Irgendetwas würde ihr dann schon einfallen, auch wenn sie bislang noch nicht wirklich wusste, wo sie überhaupt anfangen sollte.

Vor der Haustür wickelte Rosine ihren langen Schal noch einige Male mehr um den Hals. Es schneite wieder, aber das Mädchen hatte jetzt anderes im Sinn. Jetzt galt es, die Freunde von Herrn Vonundzu zu suchen. Großartig darüber nachdenken wollte sie aber nicht. Dann hätte sie womöglich auf der Stelle kehrtgemacht. Sie suchte ein paar Holzwürmer. Und ihr einziger Hinweis auf deren Aufenthaltsort war ein Poster über, auf dem Herr Vonundzu eine Maus gesehen hatte. Und das erinnerte ihn an irgendetwas.  „Na prima“, sprach Rosine zu sich selber. Sie guckte nach links und nach rechts. Das Mädchen entschied, sie wusste sowieso nicht, wo sie suchen sollte, also konnte sie einfach nach links gehen. Oder nach rechts. Rosine blickte unschlüssig in alle Richtungen. Da kam gerade der rote Bus um die Ecke. Mit Herrn Stöpke am Steuer. Schnell lief Rosine zur Bushaltestelle. Sie würde einfach den Busfahrer fragen, denn der kam ja viel rum. Vielleicht hatte Herr Stöpke eine Idee.

„Hallo Rosine! Wo soll’s denn hingehen? Weihnachtsgeschenke kaufen?“ Der Busfahrer schaute das Mädchen freundlich an. „Äh, nein. Das heißt .. ja, aber jetzt nicht. Ich meine später. Also, erst einmal. Äh, das ist so.“ „Alles klar bei dir, Kind?“ Der Busfahrer schien etwas besorgt zu sein. „Äh, ja. Doch. Es ist nur, ich suche ein paar Freunde. Und die wohnen irgendwo, wo das Mäuse gibt. Oder so.“ Die letzten beiden Wörter murmelte sie eher unverständlich in ihren riesigen Schal hinein. „Mäuse?“ Herr Stöpke dachte kurz nach. „Meinst du Geld? Zaster, Moneten? Wohnen deine Freunde in der Nähe einer Bank?“ Rosine zuckte mit ihren Schultern. „Ich habe keinen blassen Schimmer.“ „Dann kann ich dir auch nicht weiterhelfen, Rosine. Ich muss jetzt auch weiter. Willst du einsteigen?“ Das Mädchen schüttelte den Kopf und machte einen Schritt zurück, während sich ein älterer Herr an ihr vorbeidrängelte. „Mach doch mal Platz, Mädel. Also so was.”  Rosine achtete nicht auf den unfreundlichen Mann und winkte Herrn Stöpke zum Abschied kurz zu. Sie stapfte weiter durch den Schnee. Zwei Straßen weiter blieb Rosine vor dem Kiosk stehen. Ob der Kioskbesitzer ihr helfen konnte? Wo der doch so viele Sachen zum Lesen hatte? Sie zögerte nicht lange und trat näher an die Theke heran.

„Na, Rosine. Wieder Hunger auf Süßigkeiten?“ Der Kioskbesitzer lächelte, kannte er Rosine doch schon lange. Sie war zwar gelegentlich sehr vorlaut, aber doch ein liebenswertes Kind. „Nein. Also .. äh ..doch.“ „Lakritzschnecken? Wie sonst auch? Ein paar haben deine Freundinnen noch übrig gelassen.“ Er schmunzelte. „Die waren vorhin schon hier.“ „Ich weiß“, erinnerte sich Rosine. „Es geht um was anderes. Um Mäuse.“ „Mäuse? Moment. Ja, hier haben wir sie auch schon. Leckere weiße Schaum-Mäuse. Wie viele sollen’s denn sein?“ Rosine war ganz in ihre Gedanken vertieft und schreckte auf. „Wie? Was?“ Sie schaute auf die Dose mit den weißen Mäusen, die der Kioskbesitzer in den Händen hielt. „Ach so. Wissen sie was? Ich nehme ein paar. Öh, drei Stück bitte.“ Der Kioskbesitzer steckte die drei Schaum-Mäuse in eine Tüte und reichte sie dem Mädchen. „Macht dann dreißig Cent.“ Rosine kramte in ihren Taschen herum und beförderte ein paar Geldstücke zutage. „Bitteschön.“ „Immer wieder gerne“, erwiderte der Kioskbesitzer. Rosine lächelte ein wenig schief und trottete weiter. Wenigstens hatte sie nun etwas zum Naschen. Aber ob ihr das weiterhalf?

Unterdessen raffte sich Hartmut auf, seinem eintönigen im Bett liegen ein Ende zu machen. Hatte Rosine nicht von einem frierenden Holzwurm gesprochen? Auch wenn er nicht glaubte, dass seine Schwester ihm die Wahrheit erzählt hatte, wollte er doch mal nachschauen. Hustend stand er auf, schlurfte über den Flur und öffnete die Tür zu Rosines Zimmer. Sie war nicht da. Herrn Vonundzu sah Hartmut nicht. Der Holzwurm war gerade aufgewacht und lugte ängstlich zur Tür. Wer das wohl war? Schnell stülpte er den Bettzipfel über sich, guckte dann aber doch wieder verstohlen an der Seite hervor. Der Holzwurm entsann sich der Stiefel. Vorsichtig zog er sie mit unter die Decke. Diese schönen Stiefel wollte er nicht auch noch verlieren. Aber Rosines kleiner Bruder hatte die kleinen roten Stiefel bereits entdeckt. Er wollte gerade zum Bett von Rosine herübergehen, um sich die Sache genauer anzugucken, da hörte er seine Mutter rufen. „Hartmut! Was machst du denn da!? Zurück ins Bett. Oder willst du zu Weihnachten krank sein? Das fehlt mir gerade noch.“ „Ich musste mal auf’s Klo.“ „Da bist du da aber falsch, Hartmut. Sind wir ein wenig durcheinander?“ „Diese doofen Halsschmerzen“, krächzte Hartmut und fixierte dann nochmals die Stiefel auf dem Bett seiner Schwester. Nur, wo waren denn auf einmal die Stiefel abgeblieben? Er konnte sie nicht mehr sehen! Hatte er Halluzinationen? „Hartmut. Ab Marsch zurück ins Bett“, hörte er seine Mutter erneut rufen. Hartmut schlurfte zurück in sein Bett. Er war wohl doch kranker als er dachte und zog die Decke hoch bis an seine Nasenspitze.

Zur gleichen Zeit kam Rosine von ihrer Erkundungstour zurück. Lustlos biss sie in eine der Schaum-Mäuse. Was sollte sie Herrn Vonundzu erzählen? Sie hatte keine Idee, wie sie dem Holzwurm helfen konnte. Das Mädchen stand kauend vor der Haustür. „Na, Rosine. Magst du auf eine Tasse Schokolade vorbeischauen?“ Frau Kaluppke stand am geöffneten Fenster. Warum eigentlich nicht, dachte sich Rosine. So ganz ohne Neuigkeiten wollte sie dem Holzwurm nicht unter die Augen treten. Und Frau Kaluppkes Schokolade schmeckte ja auch ganz prima. „Gerne, Frau Kaluppke.“ In der Wohnung der alten Dame war es angenehm warm. Es roch nach frisch gebackenem Kuchen. „Was hast du denn da in der Tüte, mein Kind?“ erkundigte sich die alte Dame. „Ach, da sind nur weiße Mäuse drinne.“ „Weiße Mäuse?“ „Ja, zum Essen. Eigentlich schmecken die ganz lecker, aber ich habe nicht so richtigen Hunger.“ „Na, du wirst mir doch nicht krank werden? So kurz vor Weihnachten. Ich mache dir erst einmal eine heiße Schokolade.“ Und schon werkelte Frau Kaluppke eifrig in der Küche herum. Rosine pellte sich aus ihren Klamotten und legte die Tüte mit den Mäusen auf den Tisch. Sie murmelte vor sich hin. „Maus, Maus. Mausoleum? Nee, so was gibt’s hier nicht. Auch keine Mausstraße. Mist, die Zoohandlung habe ich ja ganz vergessen. Aber wo soll ich denn da suchen? Wo soll ich denn überhaupt suchen? Ach, Herr Vonundzu. Wie kann ich dir bloß helfen?“

„Hast du Kummer, Rosine? Du schaust so traurig aus.“ Das Mädchen war kurz davor, Frau Kaluppke alles zu erzählen. Dann aber traute sie sich doch nicht. Die alte Dame würde nur denken, dass sie eine zu blühende Phantasie hatte. Gedankenverloren spielte sie mit der letzten Schaum-Maus. „Na, lass die bloß nicht meinen Kater sehen. Der stürzt sich sofort auf die Maus“, lachte die alte Dame. Da lachte auch Rosine. Ja, da hatte Frau Kaluppke wohl recht. In diesem Moment kam der Kater auch gerade in das Wohnzimmer hineinstolziert. Schnurrend inspizierte er den Raum und legte sich schließlich auf den alten Sekretär. Ausgiebig leckte er seine Vorderpfoten. Wie der Kater es verstand, gekonnt um all die Fotografien herumzumanövrieren, die auf dem Sekretär standen, war Rosine ein Rätsel. Ihr Bruder Hartmut schaffte es immer wieder, selbst ohne direkten Kontakt alles zu Bruch zu kriegen. Auch eine Kunst, musste Rosine schmunzeln. „So, Kind. Hier ist deine Schokolade.“ „Danke, Frau Kaluppke. Ach, ich könnte stundenlang zuschauen, wie Herr Maus da vor sich hinträumt. Auf seinem Lieblingsplatz. So ganz ohne Sorgen. Einfach vor sich hin dösen. Den lieben langen Tag.“ „Ja, der hat’s schon gut, der Liebe. Aber er hat es sich auch verdient. Auf seine alten Tage.“

Wehmütig blickte Frau Kaluppke auf die Fotografien. Eine zeigte ein kleines Kind in den Armen einer jungen Frau in einem abgetragenen Kleid. Neben der Frau stand ein stämmiger junger Mann in einem abgewetzten Anzug. Das kleine Kind war Frau Kaluppke. Die Frau und der Mann waren ihre Eltern. Dass Frau Kaluppke auch einmal klein war, faszinierte Rosine sehr. Oft hatte die alte Dame aus ihrem Leben erzählt und Rosine hörte dann immer gebannt zu. Rosine schaute offenbar schon eine ganze Weile in Richtung der Fotografien. „Ja, Rosine. Auch ich war mal so klein wie du.“ Aber nicht so klein wie Herr Vonundzu grinste Rosine vor sich hin. Frau Kaluppkes Blick haftete weiter auf dem alten Sekretär. „Nur, der Sekretär ist an einigen Stellen schon sehr angestoßen. Da müsste mal jemand ran und das gute Stück wieder auf Vordermann bringen.“ „Och, der sieht doch richtig schick aus. Und Herrn Maus gefällt der doch auch.“ Rosine stutzte. Sie starrte auf den Kater. Warum hatte Frau Kaluppke den Kater gleich noch mal Herrn Maus getauft? Sie wusste es nicht mehr, aber das war auch egal. Maus, Maus, dachte sie nur. Herr Maus sitzt auf einem alten Sekretär. Aus edlem Holz. Konnte das denn sein? Rosine wagte nicht, den Gedanken zu Ende zu denken. Wie von selbst stand sie einfach auf und ging zu dem Sekretär hinüber. Das Mädchen gab vor, den Kater streicheln zu wollen, schaute aber insgeheim, ob sie da irgendwo ein paar Holzwürmer entdecken konnte. „Hallo“, zischte sie ganz leise. „Ist da jemand? Ich komme von Herrn Vonundzu. Ist da jemand, der Herrn Vonundzu kennt?“ Rührte sich da nicht etwas? Oder war das nur der Kater von Frau Kaluppke? Nein, da hüstelte doch jemand. Rosine meinte, etwas gehört zu haben. Sie blickte auf den Kater, doch der verhielt sich gerade ganz still. Nicht einmal die Pfoten schleckte er sich sauber.

Rosine drehte sich zu Frau Kaluppke um und sprach: „Frau Kaluppke, ich habe ja ganz vergessen nach Hartmut zu schauen. Der liegt krank im Bett. Kann ich danach noch mal wiederkommen?“ „Aber natürlich, mein Kind. Ich habe leckeren Kuchen gebacken. Dann kannst du nachher für den armen Hartmut auch ein Stück mitnehmen.“ “Au prima. Bis gleich.“ Und schon stürmte Rosine die Stufen zum zweiten Stock hinauf. Gut, sie würde auch kurz bei ihrem Bruder reinschauen, aber eigentlich wollte sie nur Herrn Vonundzu holen. Vielleicht würden sich dann ja die anderen Holzwürmer zeigen, wenn sie denn überhaupt in dem Sekretär wohnten. Rosine war ganz aufgeregt. Oben angekommen benutzte sie, und das kam sehr selten vor, ihren Wohnungsschlüssel. Schnell lugte sie in das Zimmer ihres Bruders. Hartmut schlief gerade tief und fest. „So, das wäre dann auch erledigt“, murmelte Rosine vor sich hin. Dann öffnete sie vorsichtig ihr eigenes Zimmer. Aber Herr Vonundzu war bereits wach. Er fixierte das Poster mit dem Schwein, dem Hahn und der Maus, schien jedoch immer noch nicht weiterzukommen. „Hallo, Herr Vonundzu“, flüsterte Rosine. Sie wollte den Holzwurm nicht erschrecken, war der doch ganz in seine Gedanken versunken. „Oh, Hallo Rosine. Hast du was rausbekommen?“ „Kann sein. Aber ich brauche deine Hilfe. Vielleicht sind deine Freunde hier in diesem Haus. Im Erdgeschoss. Bei Frau Kaluppke. Die alte Dame hat einen alten Sekretär. Und einen Kater mit Namen Herr Maus. Erinnert dich das an etwas?“ „Maus? Kater? Sekretär? Mir brummt schon der Schädel von all dem Nachdenken.“ „Wir gehen einfach mal zusammen runter und gucken mal. Aber versprechen kann ich nichts.“ Der Holzwurm war ganz hibbelig. Sollte er schon bald seine Freunde treffen? Schnell hüpfte er auf Rosines Hand. „Mein Schal. Moment bitte, Rosine.“ Er hüpfte zurück auf das Bett, legte seinen Schal hastig um den Hals und zupfte ihn dann aber doch noch ausgiebig zurecht. Die Stiefel hatte er schon längst wieder angezogen. Er wollte schließlich schick aussehen, wenn er vielleicht gleich seinen Freunden gegenüberstehen würde. „Kann losgehen“, gab er das Signal zum Abmarsch. Rosine musste sich Mühe geben, nicht zu sehr die Treppen hinunterzuhasten, doch sie nahm Rücksicht auf den kleinen Holzwurm in ihrer rechten Hand.

Frau Kaluppke öffnete die Tür und strahlte: „Da bist du ja schon wieder. Wie geht es Hartmut?“ „Er schläft gerade. Oh, wie das duftet.“ „Ja, Rosine, das ist der Kuchen. Komm doch rein, Kind. Geh’ schon mal voraus. Ich muss noch ein wenig in der Küche herumwuseln.“  Das passte dem Mädchen natürlich prima. Schnurstracks ging sie auf den alten Sekretär zu. „Hier, Herr Vonundzu. Hier wären wir. Vielleicht kannst du ja mal rufen.“ Der Holzwurm bibberte vor Aufregung am ganzen Körper. „Sophie? Günther? Nick? Seid ihr da irgendwo?“ Herr Vonundzu hatte gar keine Zeit, sich Gedanken zu machen, was wohl als nächstes passieren würde. Denn da vernahm er auch schon Gemurmel und Gezische.
„Er ist es wirklich. Wie das Mädchen gesagt hat. Da! Ach, er ist ja ganz schön groß geworden!“ Groß geworden? Rosine schaute amüsiert zu Herrn Vonundzu hinunter, der gerade auf den Sekretär krabbelte. Plötzlich sah das Mädchen eins, zwei, drei und dann noch mehr Holzwürmer aus einer Ritze krabbeln. Eine Freudenträne rann ihr Gesicht hinunter, als sie sah, wie sich alle umarmten und hin- und herhüpften. Der Holzwurm hatte seine Freunde gefunden. Nun hatte er ein neues Zuhause. Und das bei Frau Kaluppke! Rosine würde ihn oft besuchen kommen. Da drehte sich der Holzwurm eben zu Rosine um und winkte ihr zu. „Wie kann ich dir jemals danken, Rosine!? Es ist sooo schön.“ „Ärgert einfach nicht den Kater von Frau Kaluppke, Herrn Maus. Er war es doch schließlich, der mich auf die Idee gebracht hat. Und natürlich dein Hinweis, Herr Vonundzu. Wir haben das zusammen geschafft.“

Der Kater schlich derweil um den Sekretär herum. Was ging denn da vor sich? Er zuckte mit den Schultern, sprang auf eine Bank, räkelte sich und putzte seine Vorderpfoten. Der Holzwurm grinste und sprach zu Rosine: „Ach, übrigens. Von wegen Kartoffelsalat. Klar mag ich Kartoffelsalat. Und meine Freunde auch.“ Die nickten alle eifrig und einvernehmlich. Rosine verstand und schmunzelte. Ja, das würden schöne Weihnachten werden. Draußen lag Schnee, Oma würde bald kommen, es würde sicher ein paar feine Geschenke geben und sie würde Weihnachten zusammen mit neuen Freunden, ein paar Holzwürmern, feiern. Rosine zwinkerte dem Holzwurm zu. Dann dachte sie nach. Geschenke. Klar, sie würde sich schon freuen, aber eigentlich hatte sie hier und heute schon das größte Geschenk bekommen. Wie Herr Vonundzu alle seine Freunde herzte! Dieses Bild war schon ein so großartiges Geschenk und nur schwerlich zu steigern. Das Mädchen überlegte. Es sei denn, sie würde doch die Schlittschuhe bekommen, die sie sich wünschte. Und eine neue schwarze Jeans. Die roten Stulpen. Vielleicht ja auch Malzeug. Und ein paar neue Bücher. Und diese herrliche leckere Schokolade, die Oma immer mitbrachte. Und Nüsse. Und natürlich Weihnachtsstollen. Mit leckeren Rosinen und richtig viel Puderzucker drauf...

 

©  2004   Ralf Weidel 

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