Die Geschichte von Rüdiger und der kleinen Wolke
„Uuih, uuih, uuih.“ ..... „Uuih, uuih, uuih. Uff. ..... Hmmh. Nee, das Loch ist immer noch nicht groß genug.“ Rüdiger, der kleine Kartoffelkäfer, unterbrach seine Bemühungen, ein Loch im Garten zu buddeln und schaute in die Richtung, aus der die Stimme seiner Kartoffelkäfermama kam. Noch ganz außer Puste rief er zurück: „Gleich, Mama! Bin schon auf dem Weg!“ Wer weiß, wofür ich all die Sachen einmal gebrauchen kann, erklärte Rüdiger seiner Mutter immer dann, wenn sie wieder einmal der Verzweiflung nahe ihren Sohn für andere Interessen gewinnen wollte. „Wo soll denn das noch hinführen, Rüdiger?“ Der Kartoffelkäferknirps unterbrach seine Buddelei. Er sollte sich lieber beeilen, schnell zu seinen Kartoffelkäfereltern zu huschen, überlegte Rüdiger. Sonst würde die Mama noch böse werden. Hunger hatte er auch. Das Gebuddele war aber auch ganz schön anstrengend. Nur, das Loch, was er bisher gegraben hatte, reichte noch nicht aus, den Spiegel zu verstecken. Rüdiger kratzte sich kurz an seinem Kopf, schaute sich in dem Garten um und wurde fündig. Er wuchtete hastig ein paar Blattreste über den noch halb aus dem Loch ragenden Spiegel und begutachtete sein Werk. „Na ja. Fürs erste wird’s wohl reichen.“ Oben am Himmel kam zur selben Zeit die Sonne hinter einer großen Wolkenfront hervor. Die großen und kleineren Wolken glitten erhaben, ja, geradezu majestätisch im Pulk durch die Luft und machten sich gerade auf, allesamt ihre Reise fortzusetzen. Sogleich zeigte sich der Himmel von seiner himmelblausten Seite. Einige wenige Vögel kreisten und kreischten wie toll in der Luft umher, um aber schon bald ein schattiges Plätzchen in dem Schutz des nahe gelegenen Waldes aufzusuchen. Es war Zeit für ein Mittagsschläfchen. Auch die Kartoffelkäferfamilie machte keine Anstalten, nach dem leckeren Mittagessen die friedliche Ruhe stören zu wollen. Der Kartoffelkäferpapa machte es sich auf dem Sofa im Wohnzimmer bequem, gähnte einmal herzhaft, streckte sich dabei ausgiebig und war auch schon eingeschlafen. Die Kartoffelkäfermama setzte sich derweil in einen gemütlichen Ohrensessel und blätterte in einem dicken Kochbuch mit unzähligen Kartoffelrezepten. Rüdiger hingegen wollte nicht still im Häuschen herumsitzen. Aber das sollte er auch gar nicht, befand die Kartoffelkäfermama. Sie hatte ihn angehalten, endlich einmal sein Kinderzimmer aufzuräumen. Und zwar umgehend, sobald das Mittagessen vorbei war. Widerwillig stapfte er die Treppe hinauf in den ersten Stock. Das passte Rüdiger so gar nicht, wollte er doch lieber endlich den Spiegel im Garten verbuddeln. In seinem Zimmer angelangt schaute sich der Kartoffelkäferknirps um. Er befand den Zustand als durchaus annehmbar. „Von wegen Unordnung“, murmelte er vor sich hin. Dennoch hob er mal hier, mal dort umherliegendes Spielzeug auf oder schob es von links nach rechts und von rechts nach links, mal in die eine, mal in eine andere Ecke, stopfte einige der Sachen in einen Schrank und war zufrieden. „Das sollte ja wohl reichen“, beschloss Rüdiger. Er schaute aus seinem kleinen Fenster hinüber in den Garten. Hinter einem Löwenzahn ganz am Ende des Gartens lag der Spiegel. Aber nur halb verbuddelt. Nicht auszudenken, wenn den jemand finden würde! Rüdiger flitzte die Treppe hinunter und stürzte in den Garten. Der Kartoffelkäferknirps atmete erleichtert auf, als er bei dem provisorischen Versteck ankam. Die Blattreste lagen noch genauso, wie sie Rüdiger über den Spiegel gelegt hatte. Der Spiegel war noch da. Niemand hatte ihn entdeckt, geschweige denn mitgenommen. Der Kartoffelkäfer wollte sich gerade daran machen, weiter an dem Versteck zu arbeiten, da bemerkte er, wie heiß es mittlerweile gworden war. Die Sonne schien unnachgiebig. Rüdiger blickte hinauf. Am Himmel konnte er keine noch so kleine Wolke entdecken, die Schatten hätten spenden können. Nicht einmal ein laues Lüftchen wollte sich einstellne. Kein Rascheln der Blätter in den Bäumen. Der Käfer guckte sich um. Kein Halm, der sich rührte, sich im Wind wog. Rüdiger stöhnte. Nur langsam kam er voran. Behutsam hatte er zunächst den kleinen Spiegel aus dem noch viel zu kleinen Loch herausbugsiert, um weiter an dem Loch buddeln zu können. Plötzlich vernahm Rüdiger ein Geräusch. War es eine Stimme? Rief da jemand? Der Kartoffelkäferknirps schüttelte seinen Kopf. Nein, es war eher eine Art Fiepen. Ganz hell, kaum hörbar. Doch da! Da war es wieder! Wo kam dieses Geräusch denn bloß her?! Rüdiger drehte sich mehrmals im Kreis, bis ihm ganz schwindelig wurde. Er verlor das Gleichgewicht und plumpste mit dem Rücken auf den Boden. Nun schaute er gezwungenermaßen wieder hinauf zum Himmel. War dort nicht etwas? „Ja, aber natürlich!" rief Rüdiger. Eine klitzekleine Wolke. Ganz klitzeklein und weiß. Sie rührte sich nicht vom Fleck. Und da hörte er es auch schon wieder. Dieses leise Wimmern. Ja, es war ein ganz leises Wimmern. Es war die kleine Wolke, die dort am Himmel vor sich hin jammerte. Die Wolke schien verängstigt zu sein, stellte Rüdiger immer noch auf dem Rücken liegend fest. „Was hat die kleine Wolke denn nur?" fragte sich Rüdiger. In seiner Stimme lag Verwunderung. Was machte die Wolke da oben am Himmel nur ganz mutterseelenalleine? Der Kartoffelkäfer ahnte, wie töricht diese Frage war. Anstatt aber, wie es Rüdiger von Wolken bislang gewohnt war, erhaben durch die Lüfte zu gleiten, raste diese Wolke auf direktem Weg hinab Richtung Erde. Die Wolke wurde schneller und schneller und raste direkt auf den kleinen Rüdiger zu. Vor lauter Angst sah dieser sich außerstande, sich auch nur einen Millimeter zu bewegen. Mit weit geöffneten Augen lag der Kartoffelkäferknirps nur weiter auf dem Rücken und war zu keiner Bewegung fähig. Was passierte hier denn nur?! Die kleine Wolke hatte tatsächlich Angst. Rüdiger lag mit seiner Vermutung goldrichtig. Sie hatte sich plötzlich ganz alleine am Himmel wiedergefunden. Die anderen Wolken waren wie vom Erdboden verschluckt. Auch wenn sich Wolken ja eher hoch oben am Himmel aufhielten. „Wo bin ich hier nur?“ fragte sich die kleine Wolke. Was sollte sie nur machen? Hilflos und unsicher schloss sie zunächst ihre Augen. Nach einer Weile traute sie sich, die Augen wieder zu öffnen und blickte um sich. Doch die anderen Wolken blieben verschwunden. So verhielt sie sich ganz still, wollte sie doch kein Aufsehen erregen. Wer weiß, was dann passieren würde, dachte sich die kleine Wolke. „Wenn ich doch nur wüsste, wo ich hier gerade bin.“ Sie schaute verstohlen um sich. „Und wo sind denn nur all die anderen Wolken?“ Sie versuchte, mucksmäuschenstill zu sein, wimmerte aber schon bald, wenn auch leise vor sich hin und vergoss auch ein paar Tränen, die jedoch unbeachtet auf die Erde fielen. Auf einmal wurde die Wolke geblendet. Sie blinzelte und konnte für einen kurzen Moment gar nichts mehr sehen. Die Sonnenstrahlen trafen nämlich auf Rüdigers Spiegel im Garten, wurden von dort abgelenkt und setzten sogleich ihren Weg fort hinauf zu der kleinen Wolke. Die Wolke erschrak sich und verlor das Gleichgewicht. Sie kam ins Trudeln und sauste im Sturzflug hinunter zur Erde. Mit direkten Kurs auf den kleinen Kartoffelkäfer. „Vorsicht! Achtung! Hallo! Hier liegt jemand!“ Rüdiger schrie so laut er konnte. Die Wolke aber war mindestens genauso aufgebracht wie der am Boden wild gestikulierende Rüdiger. Die kleine Wolke nahm gar nicht wahr, was um sie herum passierte. Orientierungslos sauste sie zunächst immer schneller werdend mit zusammengekniffenen Augen auf den Kartoffelkäferknirps zu. Rüdiger schrie weiter. „Hey! Achtung! Vorsicht!“ Da endlich besann sich die Wolke, öffnete wieder ihre Augen und sah das drohende Unheil, was kaum noch abzuwenden war. Sie erinnerte sich daran, was sie in der Wolkenschule gelernt hatte, und versuchte zu wenden. Das Manöver mislang jedoch vollkommen. Die Wolke überschlug sich mehrere Male in der Luft, versuchte zu bremsen, rauschte beinahe in die Baumkrone einer Buche, schlug wilde Haken, hatte schon alle Hoffnungen fahren lassen, bremste verzweifelt weiter und kam tatsächlich noch unmittelbar über dem fassungslosen Rüdiger zum Stehen. Zitternd rang sie nach Luft. „Hallo, du“, brachte sie nur zögerlich heraus. Und schließlich sprudelte es aus der Wolke heraus. Sie achtete nicht darauf, dass Rüdiger immer noch direkt unter ihr auf dem Rücken lag. Sie konnte nicht mehr an sich halten und erzählte ihre ganze Geschichte. „Herzlich willkommen bei uns im Garten“, entgegnete Rüdiger. „Äh, würde es dir etwas ausmachen, wenn du etwas Platz machst? Damit ich wieder aufstehen kann?“ „Weißt du denn gar nicht, wo die anderen Wolken hingeflogen sind?“ Die Wolke war irritiert. Von Kartoffelkäfern hatte sie zuvor noch nie gehört. Aber Rüdiger schaute so stolz und erwartungsvoll, dass die Wolke ein bedeutungsvolles Gesicht machte und ihm zu seinem schönen Zuhause beglückwünschte. Rüdiger überlegte, wog seinen Kopf hin und her und fiel vor lauter Aufregung beinahe wieder auf seinen Rücken. Er hatte eine Idee! „Papa, Papa! Wach auf!" Der Kartoffelkäferpapa setzte sich erschrocken kerzengerade auf und fiel beinahe von dem Sofa. Die Kartoffelkäfermama schaute aus ihrem Buch hervor und guckte ihren Sohn vorwurfsvoll an. „Junge, was ist den nun schon wieder?! Hast du zu viel Hitze abbekommen? Deinen Papa so zu erschrecken." „Und? Weißt du, wo die anderen Wolken sind?“ fragte die kleine Wolke, als Rüdiger mit der zerknitterten Zeitung in der Hand noch ganz ausser Atem wieder bei der Wolke ankam. In den Worten der Wolke schwang Hoffnung, zugleich aber auch ein wenig Angst mit. Die Wolke guckte auf die Karte in der Zeitung und nickte heftig. „Ja, dann weiß ich, wo wir hier sind.“ Aber Rüdiger bedeutete ihr, noch einen Moment zu warten. „Ich hab’ da noch etwas für dich. Damit du deine Freunde nicht wieder aus den Augen verlierst.“ „Ich danke dir, Rüdiger. Das werde ich dir nie vergessen.“ „Ach was,“ versuchte der Kartoffelkäfer das Ganze abzutun. „Ihr seid doch so schön anzusehen. Da oben am Himmel. Und Schatten spendet ihr auch. Da ist es doch an der Zeit, das wir hier unten auch einmal etwas für euch tun.“ Die Wolke nahm den Spiegel an sich und pustete dem kleinen Kartoffelkäfer zärtlich in sein Gesicht. Von nun an würde sie stets gut sehen können, was hinter ihr passierte. Sie lächelte dem Kartoffelkäfer zum Abschied herzlich zu. Dann machte sich die kleine Wolke auf, den anderen Wolken hinterherzueilen. Der Kartoffelkäfer winkte der Wolke noch lange nach. Selbst als die Wolke schon gar nicht mehr zu sehen war. Er blickte hinüber zu dem eigens für den Spiegel angedachten Versteck, das er so mühselig gegraben hatte, und seufzte. „Na ja“, murmelte Rüdiger vor sich hin, „ich werde bestimmt irgendetwas anderes finden, das ich da drin verstecken kann.“ Schon wühlte Rüdiger sich durch den Garten. Auf der Suche nach neuen Schätzen, die er irgendwann einmal gebrauchen könnte. So wie den Spiegel. Sofort dachte er wieder an die kleine Wolke, deren Bekanntschaft er gemacht hatte, weil sie sich verirrt hatte und von dem Spiegel geblendet worden war. Während Rüdiger im Garten herumwühlte, flog die kleine Wolke zielstrebig in die Richtung, in der die anderen Wolken nach Rüdigers Berechnungen vorausgeeilt waren. Sie vertraute dem Kartoffelkäfer und sollte damit auch Recht behalten. Bald zeichnete sich in der Ferne ein flauschiges Band prächtiger Wolken ab, die sich allesamt über den Himmel verteilt auszuruhen schienen. Die kleine Wolke pustete erleichtert durch. Sie hatte es geschafft. Sie nahm den Spiegel und lenkte ein paar Sonnenstrahlen in Richtung der anderen Wolken. Diese konnten sich zunächst keinen Reim darauf machen, was sie da gerade blendete. Dann aber quiekten die ersten Wolken vergnügt durcheinander, denn sie hatten die kleine Wolke erkannt. Mittlerweile wurde sie auch schon vermisst und man wollte gerade beratschlagen, wie man die Suche nach der kleinen Wolke angehen sollte. Und immer wenn seitdem am Himmel hoch oben die Wolken umhersausen und es prächtig funkelt, dann macht unten im Garten vor dem Kartoffelkäferhäuschen der Kartoffelkäferknirps einen Freudensprung und winkt den Wolken lustig zu. © 2005 Ralf Weidel |
|||||
Und hier geht's zurück zur ersten Seite © Teddy vom MOnd |
|||||
|
|||||